Wann sage ich Nein zu meinem Kind und wie ziehe ich Grenzen, ohne dass das Kind dabei Schaden nimmt? Das ist die Frage einer Mutter, die ich hier beantworte.
Frage: Wenn das Kind bockt oder seinen Willen haben will, wie lange gehe ich darauf ein? Wann setze ich mich durch und „breche seinen Willen“? Ich will ja, dass das Kind seinen Willen entwickelt und sich auch durchsetzen kann. Aber wo kann ich die Bockhörner abschleifen, ohne dass es weh tut?
Es geht nicht darum, grundsätzlich meinen Willen als Eltern durchzusetzen oder gar den Willen des Kindes zu brechen. Es geht auf der anderen Seite auch nicht darum, dem Willen des Kindes überall nachzugeben. Es geht darum die Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen – und meine Bedürfnisse. Wichtig sind dabei zwei Dinge. Erstens: Wünsche sind meist keine Bedürfnisse. Zweitens: Als Erwachsene sind wir verantwortlich, dass die Bedürfnisse aller in der Familie befriedigt werden. Das ist nicht Aufgabe des Kindes.
Warum Nein sagen?
Nein sagen ist aus verschiedenen Gründen wichtig. Nein sagen schützt. Es schützt das Kind vor Gefahren: Nein – es ist gefährlich auf die Straße zu rennen. Es schützt das Kind davor schlechte Gewohnheiten zu entwickeln: Nein – ich möchte nicht geschlagen werden. Es schützt dich als Mutter oder Vater vor Überforderung: „Nein – ich möchte meine Ruhe haben“. Vor allem lernt das Kind von deinem Nein selbst Nein zu sagen. Nein sagen bedeutet sich abgrenzen zu können. Das ist ein wichtiger Baustein, um sich im Leben behaupten zu können.
Wann soll ich Nein sagen?
Ich kann nicht sagen, bei welchen Themen du Nein sagen sollst und an welchem Punkt du dich durchzusetzen hast. Wichtig ist aus meiner Sicht, überhaupt Nein zu sagen. Also überhaupt in den Konflikt, in die Auseinandersetzung zu gehen. Die Stelle, an der du Nein sagen solltest, musst und kannst nur du selbst herausfinden. Es geht darum, dieses Nein in mir zu spüren. Dieses: „Nein, das geht mir zu weit!“
Nein sagen zeigt meine Grenze auf
Dieser – oft erst einmal nur – innere Impuls, Nein zu sagen, ist sehr bedeutend. Er zeigt mir meine (!) Grenze auf. Und da es meine Grenze ist, unterscheidet sie sich von der Grenze anderer! In den meisten Fällen gibt es keine allgemeingültige Regel, wann wir Nein zu sagen haben.
Grenzen sind von Person zu Person unterschiedlich
Meine Frau kann selbst nach einem Arbeitstag meist viel länger Kinderlärm ertragen als ich – und dann hat sie schon den ganzen Tag mit Kindern gearbeitet, denn das ist ihr Job. Ich beschäftige mich aber mit Menschen im Zweiergespräch oder sitze alleine vor meinem Schreibtisch und schreibe. Und dennoch reißt mir am Ende des Tages vielleicht schon nach einer Viertelstunde Kinderlärm der Geduldsfaden. In diesem Moment bin ich dann an meine Grenze gekommen.
Wie sage ich denn Nein? Oder: Wie sage ich es meinem Kinde?
Es ist eine Sache, meine Grenze zu spüren und eine andere, diese zu kommunizieren. Wie heißt es so schön – der Ton macht die Musik. Tatsächlich ist es eine Mischung aus sehr vielen Einzelheiten, die unsere Kommunikation ausmacht: Also Tonfall, Wortwahl, Körpersprache und so weiter.
Der Ton macht die Musik
Beispiel Tonfall: Ich kann in einer leisen, flötenden Stimme Nein sagen. Ich kann ruhig und bestimmt Nein sagen. Ich kann lauter werden. Ich kann schreien und brüllen. All das macht einen Unterschied. Ich sage nicht, dass das Leisesein immer angemessen ist. Manchmal wird es in Familien laut. Das ist aus meiner Sicht besser, als wenn Konflikten aus dem Weg gegangen wird. Auch wenn mein Ziel ein wertschätzender Umgang ist.
Wie finde ich die richtigen Worte?
Oder die Wortwahl: Es macht einen Unterschied, ob ich mein Kind bitte („Geh bitte auf dein Zimmer“), frage („Möchtest du vielleicht in deinem Zimmer spielen?“), etwas vorschlage („Du könntest ja malen …“), um Verständnis werbe („Schau mal, der Papa ist müde“), es besteche („Wenn du mich jetzt in Ruhe lässt, dann darfst du …“), ihm drohe („Wenn du weitermachst, dann darfst du nicht …“) oder einfach klar bin („Ich möchte, dass du auf dein Zimmer gehst.“).
Wie kommuniziere ich überhaupt mit meinem Kind?
Es hilft sich im ersten Schritt zum Beispiel des eigenen Tonfalls oder Ausdrucks bewusst zu machen. Also mir die Frage zu stellen: Wie kommuniziere ich überhaupt mit dem Kind? Hier hilft oft die Rückmeldung der Partnerin oder des Partners. Die sehen häufig ganz gut, wo unsere Schwachstellen in der Kommunikation liegen. Im zweiten Schritt kann ich mir dann überlegen: Wie möchte ich denn kommunizieren? Oder wie kann ich meine Botschaft klarer rüberbringen?
Die Gefahr, wenn ich nur auf meine Worte achte
Dennoch: All das birgt die Gefahr, an der Oberfläche zu bleiben. Dann studiere ich Wörter ein, verstelle meine Stimme oder unterdrücke meine Wut. Das Gegenüber – und insbesondere die eigenen Kinder – spüren jedoch die unterschwelligen Gefühle. Selbst Kleinkinder spüren die wahren Gefühle ihrer Eltern, selbst wenn diese die verbergen …
Sich zu verstellen kann Folgen haben: Im schlimmsten Fall beginnen die Kinder dann ihren eigenen Gefühlen nicht mehr zu trauen. Denn das, was sie bei ihren Eltern fühlen, deckt sich nicht mit dem, was die Eltern sagen.
Daher ist Ausdruck und Tonfall nur die Oberfläche der Kommunikation. Alles steht und fällt mit meiner inneren Haltung. Am Ende gibt meine innere Haltung den Ausschlag – und nicht einzelne Wörter!
Meine Haltung: Mein Ja und mein Nein
Mein Ja zu meinen Kindern ist, dass ich sie annehme. Dass ich für sie da bin – ohne Wenn und Aber. Das werden die meisten unter Liebe verstehen. Ich spreche aber auch aus Liebe, wenn ich zu meinen Kindern Nein sage. Dabei stelle ich natürlich nicht die Beziehung zu meinen Kindern in Frage. Und wenn ich Liebe sage, heißt das nicht, dass ich mit säuselnder Stimme flöte. Liebe heißt nicht Verliebtsein und Familie heißt nicht heile Welt!
Anders gesagt: Du kannst nicht immer Freundin oder Freund deines Kindes sein. Das geht nicht. Liebe heißt, dem anderen neben meinem grundsätzlichen Ja auch mein Nein zu zeigen. Und wenn ich Nein sage, wird mein Gegenüber das mit hoher Wahrscheinlichkeit erst einmal nicht als angenehm empfinden.
Muss ich konsequent sein?
Ich halte übrigens nicht viel von Konsequenz – zumindest nicht in dem Sinne, dass es unumstößliche Regel gibt. Ich halte vielmehr davon auf die Menschen zu schauen. Also: Was braucht mein Kind jetzt? Und was brauche ich jetzt? Flexibilität und Kontakt ist mir wichtiger als Konsequenz …
Du hast gerade mit Grabesstimme das Ende der Spielplatzzeit angedroht ? Jetzt siehst du, dass dein Kind völlig versunken im Förmchenbacken ist und du bringst es nicht übers Herz es aus dem Spiel zu reißen? Wenn du die Zeit hast, dann lass es in Gottes Namen spielen. Genießen den Augenblick und den Anblick deines Kindes. Wenn du hingegen einen wichtigen Termin hast, dann unterbrich das Spiel. Es bringt keinem etwas, wenn du danach durch den halben Tag hetzt, nur weil du dem Kind einen schönen Augenblick gönnen wolltest …
Muss ich mein Nein begründen?
Nein, musst du nicht. Macht aber manchmal Sinn. Wie gesagt: Es kommt wieder darauf an. Bei sehr kleinen Kindern halte ich lange, vermeintlich logische Erklärungen für kontraproduktiv. Die Kinder nehmen dann eher mit, dass über alles diskutiert werden kann. Dass Mama oder Papa nicht klar sind. Selbst unsicher.
Natürlich wandelt sich das im Laufe der Zeit. Kinder werden größer und beginnen zu fragen und ihre eigene Meinung zu haben. Aber auch hier finde ich, muss ich nicht alles erklären. Wie soll ich auch begründen, wenn ich etwas einfach nicht möchte? Manchmal spüre ich einfach: Ich will nicht.
Nein sagen stößt vor den Kopf
Das Aussprechen meiner Wahrheit, also wie ich die Welt wahrnehme, kann den anderen vor den Kopf stoßen. Das gilt für alle Beziehungen: Weise ich meinen Kollegen darauf hin, dass er nach Knoblauch riecht, kann das erst zu einer peinlich Gesprächspause führen. Vielleicht ist er aber später dankbar, dass ich ihm das vor dem wichtigen Gespräch mit dem Kunden gesagt habe.
Je enger die Beziehung, desto heftiger sind meist unsere Reaktionen. Wenn ich meiner Frau sage, was mich an unserer Beziehung stört, muss ich mich vielleicht warm anziehen. Vor allem wenn wir noch nicht gewohnt sind wirklich offen miteinander zu sprechen …
Zu dem Nein-Sagen zählt aus meiner Sicht auch, wenn ich vom anderen etwas möchte: Also, wenn ich möchte, dass der andere sein Verhalten ändert. Dann sage ich zu ihm quasi: Nein, so geht das nicht (mehr).
Keine Dankbarkeit oder Einsicht erwarten
Wenn du deinem Kind sagst, dass es ab sofort im Haushalt mithilft und die Spülmaschine ausräumt, dann erwarte nicht, dass es dir dafür freudig um den Hals fällt. Vielleicht wird es dir in zwanzig Jahren dankbar sein, dass du es zu einem selbständigen Menschen erzogen hast. Vielleicht. 😉 Aber für den Moment würde ich mit Widerstand rechnen – vielleicht sogar mit erheblichem Widerstand.
Mit Widerstand rechnen
Mit Widerstand können wir eigentlich immer rechnen, wenn wir etwas ändern wollen. Das System versucht schlicht und einfach den Status quo zu erhalten. Denn sich zu ändern ist mit Aufwand verbunden. Wir verlieren etwas Gewohntes und wissen nicht, ob das Neue das wert ist. Deswegen rechnen Veränderungsmanager in Unternehmen mit Gegenwind, wenn sie einen Change-Prozess anstoßen. Der Widerstand ist sogar elementarer Teil der Veränderung.
Lernen aus dem Nein: Was das Kind gewinnt
Das Kind lernt aus deinem Nein eine ganze Menge. Die Sache, um die es vordergründig geht, ist dabei langfristig völlig unerheblich. Um beim Beispiel mit der Spülmaschine zu bleiben: Natürlich lernt das Kind, wie es einen Geschirrspüler aus- und einräumt. Es lernt aber weiterhin in diesem Beispiel, dass es eine Aufgabe in der Familie zu übernehmen hat – und übernehmen darf! Und vor allem lernt es von dir, Nein zu sagen, also zu sich und seinen Grenzen zu stehen. Und wie das geht, wenn ich mich in einer Beziehung behaupte.
Starke Eltern helfen ihren Kindern stark zu werden
Es ist unglaublich wichtig, zu wissen, dass und wie ich Nein sagen kann – gerade in engen Beziehungen. Diese Fähigkeit braucht das Kind, der Jugendliche oder die Erwachsene, um sich abzugrenzen und sich zu schützen. Zwei Beispiele: Sei es die 14-Jährige die Nein zu ihrem ersten Freund sagt, der mit ihr schlafen will und sie das nicht will. Oder der 18-Jährige, der Nein zu seinen Freunden sagt, die ihn gegen seinen Willens zu einem Schnaps überreden wollen.
Wenn wir Nein sagen können zu dem Verhalten und gleichzeitig Ja sagen können zu dem Menschen – dann sind wir weit gekommen.
Viel Spaß bei deinem nächsten Nein.