Zeichnung eines Erwachsenen, der mit einem Kind schimpft. Text: Was Kinder aus Strafen lernen.

Zwei Wochen Bastelverbot? Was sich auf den ersten Blick lustig anhört, offenbart Abgründe in der Erziehung. Denn das Beispiel stammt aus einem Kindergarten. Leider sind Strafen auch in vielen Familien immer noch an der Tagesordnung. Das Verrückte: Strafen funktionieren. Nur leider nicht so, wie die meisten Eltern sich das wünschen …

Die KiTa streicht einer Vierjährigen Basteln – für zwei Wochen! In der Schule darf eine Elfjährige nicht mehr am Schwimmunterricht teilnehmen. Und zuhause erhält ein Sechsjähriger Stubenarrest. Ein Fünfjähriger beklagt sich bei mir, dass Mama ihn so feste anfasst. Alles Strafen aus dem Jahr 2019. Kein Wunder: Strafen sind effektiv. Viele Kinder stellen daraufhin das unerwünschte Verhalten ein. Doch der Preis dafür ist hoch.

1.    Wie Strafen wirken

„Eine Strafe muss weh tun.“ Das ist die grundlegende Idee. Strafe ist ein so einschneidender Vorgang, dass sich der Bestrafte daran erinnert und das unerwünschte Verhalten in Zukunft unterlässt. Soweit die Theorie.

1.1.  Strafen verletzen

Im Grundkonzept von Strafe liegt auch gleich ihr größter Nachteil: Sie verletzt den anderen – und zwar bewusst! Dazu kommt die Abhängigkeit des Kindes von den Erwachsenen. Das Machtgefälle verstärkt die Wirkung der Strafe, das heißt der Verletzung noch.

Diese gigantische Abhängigkeit, in der Kinder leben, vergessen wir als Erwachsene häufig. Als Kind bin ich meinen Eltern, aber auch meinen Erziehern oder Lehrerinnen größtenteils ausgeliefert. Merken Erwachsene, dass ihnen Beziehungen schaden, dann können sie diese verändern oder auflösen. Selbst zentrale Beziehungen können sie beenden: sich vom Partner trennen oder scheiden lassen, kündigen oder umziehen. Das können Kinder nicht. Ihr Schicksal liegt in den Händen von uns Erwachsenen.

Kinder sind von uns Erwachsenen abhängig

So eine absolute Abhängigkeit erfahre ich als Erwachsener eher selten. Dennoch kann ich sie auch spüren. Zum Beispiel wenn ich mich an Vorgesetze oder Behörden wende: Wenn meine Chefin mir nicht den Urlaub im gewünschten Zeitraum genehmigt. Oder wenn mir die Krankenkasse nicht die Kur bewilligt. Wenn ich mir das vergegenwärtige, dann verstehe ich, wieso Kinder oft so absolut frustriert sind, wenn wir nein sagen. Denn unser Nein ist für sie absolut.

1.2.  Strafen schaden der Beziehung

Wie fühlt es sich wohl an, wenn der Mensch, dem ich das größte Vertrauen entgegenbringt, mich verletzt? Überlege dir, wie ein grundlegender Streit mit deiner Partnerin oder deinem Partner war. So fühlen sich Kinder, wenn ihre Eltern sie verletzen – nur ist das Gefühl viel, viel stärker. Strafen belasten also die Beziehung zwischen Eltern und Kind.

Strafen widersprechen den Bedürfnissen des Kindes

Die Strafe verletzt also das Kind besonders und das belastet die Beziehung zu uns Erwachsenen. Unsere Aufgabe ist aber eine ganz andere: Unsere Aufgabe als Eltern, und auch als Erzieherin und Lehrer, ist es die fundamentalen Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen. Fundamentale Bedürfnisse sind vor allem Nähe und Sicherheit. Strafen untergraben beides.

1.3.  Das Kind passt sich an

„Aber es funktioniert, ich muss nur einmal ernst blicken, dann gehorchen meine Kinder.“ Diese Aussage habe ich tatsächlich so gehört. Ja, seine Kinder gehorchen. Ganz einfach: Sie haben sie abgerichtet – wie einen Hund. Ich habe den betreffenden Vater gefragt, weshalb seine Kinder jetzt gehorchen. Nach einer Weile kam er darauf: Sie hatten schlicht und einfach Angst vor ihm. Ganz ehrlich: Ich halte es für eine ganz schlechte Idee, Kindern Angst zu machen und noch davor vor den eigenen Eltern.

Kinder, die gelernt haben Angst zu haben, werden häufig entweder ängstlich oder wütend. Ängstliche Menschen werden Drückeberger, die zu allem Ja und Amen sagen. Wütende Menschen werden Aggressoren, die zu allem Nein sagen. Ich möchte aber, dass meine Kinder frei sind. Frei Ja zu sagen und Nein zu sagen, wenn sie das möchten. Denn wir brauchen beides: Die Fähigkeit Nein und Ja zu sagen. Nein zu sagen ist die Fähigkeit sich abzugrenzen. Ja zu sagen ist die Fähigkeit sich mit anderen zu verbinden. Damit Kinder das lernen brauchen sie das Vertrauen, dass sie so, wie sind, angenommen sind.

Übrigens 1: Das Gesetz

Es gibt da auch ein Gesetz, das besagt, was wir unseren Kindern antun dürfen – und was nicht! Im Bürgerliches Gesetzbuch steht unter § 1631 (2): „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Ich bin sicher: Strafe ist entwürdigend.

Übrigens 2: Die Wut der Eltern

Häufig verhängen wir Strafen rein aus Wut. Hinter unserer Wut steht meist unsere eigene Ohnmacht. Das erlebe auch ich so, wenn ich mit unseren Kindern zusammen bin. Nur hat es nichts mit dem Kind zu tun. Unsere eigenen Kinder bringen uns lediglich viel schneller als irgendjemand anders an unsere Grenzen.

Aber: Es sind und bleiben unsere Grenzen – nicht die Grenzen des Kindes. Wer sich darauf einlassen will, hat hier eine große Chance selbst zu lernen und zu wachsen. Gerade im Konflikt mit dem eigenen Kind: Was treibt mich zur Weißglut? Was ist das in mir, das mich wütend macht? Was fehlt mir in diesem Moment?

Ein Erwachsener schimpf mit einem Kind. Text: Strafen machen ängstlich oder wütend.

2.     „Mir hat das auch nicht geschadet“ – Argumente für Strafen?

Das Argument „Mir hat das auch nicht geschadet“ ist aus meiner Sicht genauso sinnvoll wie „Das haben wir immer schon so gemacht“. Vor einem halben Jahrhundert war die Prügelstrafe in Deutschland selbst in Schulen noch verbreitet. Zum Glück haben wir das hinter uns gelassen. Aber: Es hat bis zum Jahr 2000 gedauert, bis körperliche Strafen in der Erziehung in Deutschland gesetzlich verboten wurden – Schweden ging da schon 1979 mit gutem Beispiel voran.

Wieso Konsequenzen keine Alternativen sind

Als Alternative zu Strafen sind in den letzten Jahren die „logischen“ oder „natürlichen Konsequenzen“ in Mode gekommen. Ich glaube: in der Regel sind das nur sprachliche Umschreibungen für Strafen.

Eine natürliche Konsequenz ist in meinen Augen etwa folgende Situation: Ein Kind spielt mit seinem Lieblingsglas und wirft es hoch. Das Glas fällt herunter und zerspringt in tausend Scherben. Das ist eine natürlich Konsequenz. Meist meinen wir aber etwas anderes, wenn wir in der Erziehung von natürlicher Konsequenz sprechen.

Wenn das Kind also beim Abendbrot sein Glas hochwirft, dann verbannen es die Eltern vom Tisch. Das ist aber in meinen Augen keine natürliche Konsequenz, sondern schlicht und einfach eine Strafe.

Es gibt mit Sicherheit die Möglichkeit sich Konsequenzen zu überlegen, die als natürliche Folge des Verhaltens erscheinen. Ganz ehrlich: Mir ist das schlicht zu anstrengend. Wenn mir etwas nicht passt, dann sag ich das. Wenn mein Kind etwas tut, mit dem ich nicht einverstanden bin, dann sag ich das. Wenn mein Kind etwas tut, was das Kind oder jemand anders gefährdet, dann schreite ich sofort ein. Okay, auch wenn das Kind mit dem Hammer auf den Fernseher losgeht 😉

Falls du di die Mühe machst logische Konsequenzen einzuführen, rate ich dir achte darauf: Sie dürfen sich nicht wie Strafen anfühlen. Wenn das Kind spürt, dass die Eltern ein scheinheiliges Spiel treiben, dann geht das Ganze nach hinten los. Du weißt schon, Sprüche wie: „Das hast du dir selbst zuzuschreiben.“

3.     Kinder und Grenzen

Die Frage nach Strafe tritt ja vor allem in Konflikten auf: Wenn das Kind etwas tut, was ich nicht möchte. Wenn es etwas zerstört. Wenn es Grenzen, meine Grenzen, überschreitet. Dabei ist es hilfreich, sich zwei Dinge zu verstehen und sich liebevoll in Erinnerung zurufen:

3.1.  Grenzen fordern heraus

Grenzen haben auf Kinder erst mal keine abschreckende Wirkung. Viele Erwachsene mögen vielleicht denken: Das ist verboten, dann tut man das auch nicht. Tatsächlich würde ich sagen, dass sich kein Mensch wirklich an alle Regeln hält. Vielmehr brechen und biegen wir Großen auch manche Regel oder sogar Gesetze. Auf Kinder haben Grenzen eine geradezu magische Anziehungskraft. Sie fragen sich: Hält die Grenze?

Ein Kleinkind lässt immer wieder etwas zu Boden fallen. Einen Baustein, den Teddy, das Kissen, die Fernbedienung und so weiter. Es testet schlicht und einfach die Gravitation. Und so wie Kinder physische Regeln und Gesetze testen, so testen Kinder auch soziale Regeln. Also: Bleibt Mama auch bei ihrem Nein zu Schokoriegel an der Kasse, wenn ich lauter werde?

3.2.  Kinder können vieles nicht abschätzen

Das kindliche Gehirn ist in der Entwicklung und im Aufbau, später im Jugendalter wird es dann sogar umfassend umgebaut. Das heißt Kindern fehlt in vielen Situationen schlicht die Einsichtsfähigkeit. Das logische Denken ist noch nicht auf dem Niveau eines Erwachsenen. Der Teil des Gehirns, der für die Impulskontrolle und das planerische Handeln zuständig ist, bildet sich oft erst jenseits des 20. Lebensjahrs aus!

4.     Wie setze ich mich durch? 3 Schritte zu einer respektvollen Lösung

Okay, das Kind überschreitet meine Grenzen, meine Regeln. Wie gehe ich nun vor, wenn ich nicht strafen will?

Der erste Schritt ist mich selbst zu sehen. Mit mich sehen meine ich, dass ich meine eigenen Gefühle sehe – und anerkenne, dass es meine Gefühle sind. So in der Art: „Ich bin echt wütend, dass mein Sohn meinen Lieblingscomic bekritzelt hat.“ Ich nehme das Gefühl zu mir – statt zu sagen: Das Kind ist „schuld“.

Im zweiten Schritt schaue ich auf das Kind und versuche zu verstehen, wie es ihm geht: „Oh, es ist überrascht, dass ich so wütend bin.“ Dann überlege ich, welches Bedürfnis das Kind verfolgt hat. Da es meine Sammlerausgabe des Comics mit Buntstift bemalt hat, vermute ich mal, dass es sich künstlerisch ausdrücken wollte.

Und schließlich überlege ich im dritten Schritt, was das Kind jetzt braucht. Beim Anblick meines neu kolorierten Comics hatte ich kurz die Fassung verloren und laut geschimpft – so in der Art: „Was zum Teufel …?“ Wenn ich mir jetzt den Zweijährigen betrachte, dem Tränen über das Gesicht laufe, komme ich zum Schluss, dass der Kleine schnell getröstet werden muss.

4.1.  Weitere Möglichkeiten, wie wir als Eltern intervenieren können:

Zum einen können wir das Verhalten unterbrechen. Oft reicht es, das Kind auf etwas anderes aufmerksam zu machen, um es von seiner Wut abzulenken. Das ist vor allem bei kleinen Kindern sehr hilfreich, die noch nicht so gut wieder aus einem Gefühl aussteigen können. Zum anderen können wir die Situation einfach aushalten. Das ist angebracht, wenn das Kind sich nicht ablenken lässt.

Für Kinder – und Menschen allgemein – kann es hilfreich sein, einfach mal ein Gefühl auszuagieren. Manchmal müssen wir einfach weinen – auch wenn es eine halbe Stunde dauert! Manchmal ist der Schmerz einfach so groß. Gut, wenn dann jemand da ist, der mich lieb hat und dem ich bedingungslos trauen kann – meinen Eltern.

5.     Fazit: Nein sagen!

Damit nicht der Eindruck entsteht, bei uns in der Familie herrsche Friede und Harmonie, noch ein paar Worte zum Nein-Sagen. Wir sagen auch mal sehr deutlich Nein. Wir werden manchmal auch laut. Auch mal zu laut. Dann entschuldigen wir uns. Suchen nach einer Lösung, einem Kompromiss. Wir sind nämlich nur Menschen und nicht perfekt. Wir sind gemeinsam auf den Weg – gemeinsam mit unseren Kindern. Und das empfinden wir als großes Geschenk.

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