Überforderte Eltern: Was mache ich, wenn nichts mehr geht?
Doppelte Herausforderung Job und Familie – nicht wenige Eltern fühlen sich überfordert. Wenn gar nichts mehr geht, helfen mir folgende drei Dinge.
Wer je nachts zum dritten Mal übermüdet ein schreiendes Baby im Arm hielt, obwohl er am nächsten Tag einen beruflichen Termin hatte, beginnt zu ahnen dass ein Kind nicht einfach ein weiteres Projekt ist, das sich mit der richtigen Strategie optimieren lässt.
Kinder bringen uns an unsere Grenzen – das ist gut, solange es uns herausfordert und wir dadurch wachsen können. Es schadet uns, wenn es uns überfordert!
3 Schritte für Eltern, um sich aus der Überforderung zu lösen
Wenn wir als Eltern an unsere Grenzen gestoßen sind, haben uns folgende drei Dinge geholfen – die Reihenfolge ist dabei nachrangig:
- Verständnis: verstehen und nachsichtig sein
- Handeln: energisch um Hilfe bitten
- Reflektieren: Grundsätzliches verändern
1. Verständnis: verstehen und nachsichtig sein
Mit Verständnis meine ich zwei Dinge: Zum einen verstehen, weshalb es mir – und vielen anderen Eltern – so schlecht geht. Und zum anderen nachsichtig mit mir sein, wenn ich (aus diesen oder andern Gründen) an meine Grenzen stoße.
1.1. Eltern brauchen das Dorf
Ich finde es hilfreich zu verstehen, dass wir als Menschen nicht dafür gemacht sind, so zu leben wie wir zurzeit leben. Wir brauchen – wie Susanne Mierau schreibt – das Dorf, den Clan. Millionen Jahre hat der Mensch in überschaubaren Familienverbänden gelebt.
Im Clan war für jeden gesorgt
Kinder waren im Clan immer dabei: Erst trugen Eltern ihre Babys, dann liefen die Kinder mit ihren Eltern mit, halfen das Essen zuzubereiten, später mit zu sammeln und zu jagen. Waren sie noch nicht groß genug, um zum Beispiel mit auf die Jagd zu gehen, kümmerten sich andere Stammesmitglieder um sie – die älteren Kinder oder die Alten. So war jeder eingebunden und für jeden gesorgt.
Die Schattenseiten der Moderne: Überforderte Eltern
Heute fehlen nicht nur die Großfamilienstrukturen, die uns auffangen. Kinder aufzuziehen ist zwei, manchmal nur noch einem Erwachsenen überlassen. Auch erlauben uns die wenigsten Berufe oder Arbeitgeber unsere Kinder mit auf die Arbeit zu nehmen. Kinder können nicht mehr einfach dabei sein, wenn Erwachsene ihr Tagwerk tun, sondern müssen betreut werden. Dazu kommt ein strikter Terminplan, der sich nach der Arbeitsorganisation richtet und nicht mehr nach den Bedürfnissen der Menschen.
Zurück in den Urwald? Neee …
So sehr ich diese Sehnsucht nach einer heilen Clan-Welt in einer natürlichen Umwelt in mir spüre, will – und kann – ich nicht zurück in den Urwald. Aber mir hilft ein Stück weit allein das Wissen, dass es unter anderem diese gesellschaftlichen Umstände sind, die das Elternsein heute so schwer machen. Ich verstehe, warum ich überfordert bin. Und ich sehe, dass es äußere Gründe gibt.
1.2. Verständnis wächst aus Verstehen
Mir hilft dieses Wissen. Es hilft mit dabei nachsichtiger mit mir selbst zu sein. Selbst wenn du meine Ausführungen bis hierher nicht teilst, so lege ich dir sehr nahe, dieses eine mitzunehmen: Sei nachsichtig mit dir selbst.
Viel zu oft fühlen sich Eltern schuldig. Suchen sie die Gründe für ihre Erschöpfung, ihr als Scheitern empfundenes Handeln nur bei sich selbst. Ich bin überzeugt, dass es beide Seiten gibt: Die gesellschaftliche und die persönliche.
Gelassenheit und Weitsicht
Die gesellschaftliche Seite zu ändern, wie die von mir sehr geschätzte Susanne Mierau hier fordert, ist wichtig. Aber das ist ein langwieriges Projekt. Eltern, die in der akuten Überforderung sind, brauchen auch sofort Hilfe. Zu wissen, was ich ändern kann und was nicht, ist wichtig, wie schon Reinhold Niebuhr in seinem Gebet über Gleichmut formulierte: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Der erste Schritt könnte also eine Erkenntnis in der Art sein: „Ich kann nicht mehr – kein Wunder, wenn ich das alles alleine stemmen soll. Ich muss jetzt gut für mich und meine Familie sorgen.“
2. Handeln: Energisch um Hilfe bitten
„Störungen haben Vorrang.“ Diese Aussage von Ruth Cohn gilt selbstverständlich auch für Familien. Ruth Cohn war Psychologin und Mitbegründerin der Themenzentrierten Interaktion (TZI). In der TZI gibt es eine weitere zentrale Aussage, die ich hilfreich finde, und zwar das Postulat: „Sei deine eigene Chairperson.“ Also die Aufforderung sich im Rahmen der eigenen Möglichkeiten für sich selbst einzusetzen.
Wenn meine eigenen Möglichkeiten erschöpft sind, dann empfehle ich dringend nach Hilfe und Unterstützung zu suchen – und zwar energisch! Bitte dein ganzes Umfeld, Familie, Freunde, Bekannte, Nachbarn oder Arbeitskollegen dich zu unterstützen oder zu entlasten. Allerdings: Um Hilfe zu bitten, ist manchmal einfacher gesagt als getan.
Grenzen überschreiten, um Grenzen zu retten
Gerade Menschen, die die Grenzen anderer sorgsam achten – vielleicht sogar besser als ihre eigenen Grenzen – , fällt es schwer „ich brauche dich“ zu sagen. Jetzt müssen sie ja unbequem werden und Grenzen überschreiten.
Wer um Hilfe bitte, zeigt auch seine Schwäche
Mit dem Um-Hilfe-bitten geht einher, dass ich meine eigene Überforderung anderen eingestehe. Davor schrecken viele zurück. Sie haben das Gefühl, es sei nicht angebracht über Scheitern oder Ängste zu sprechen.
Sich öffnen und zeigen birgt Gefahr und Chance
Wenn ich meine Ängste und Schwächen zeige, mache ich mich verletzlich. Deswegen ist es auch legitim und sehr sinnvoll zu schauen, wem ich mich wie weit anvertraue. Gleichzeitig ist das Öffnen immer auch eine Einladung. Jede Gefühlsregung zeigt mir mehr von dem anderen. Es bringt uns einander näher. Und genau das wollen wir doch.
Der Preis für Hilfe ist die eigene Maske
Wenn die Überforderung zu groß wird, würde ich immer den äußeren Schein opfern wenn ich dafür die Unterstützung bekomme, die ich brauche. Die Alternative wäre: Ich behalte die Inszenierung des perfekten Vaters oder Mutter aufrecht und leide weiter. So riskiere ich nicht nur, dass ich irgendwann zusammenbreche, sondern dass auch meine Kinder darunter leiden.
3. Reflektieren: Grundsätzliches verändern
Dieses energische Handeln ist wie eine Art Erste-Hilfe, die schnell Entlastung bringt. Manchmal reicht schon das eine Wochenende, an dem die Kinder bei den Großeltern sind. Es ist die kleine Pause, die wir brauchen, um wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Aber nicht immer reicht das aus.
Wenn wir nach der Pause zum Atemholen schnell wieder in die Erschöpfung gleiten, dann sollten wir etwas Grundsätzliches ändern. Mütter und Väter, die sich über längere Zeiträume überfordert fühlen, brauchen brauchen ein neues Alltagsgerüst. Ein Gerüst, das sie nicht überfordert, sondern stattdessen herausfordert und Raum für Ruhe bietet.
Wenn wir uns selbst im Weg stehen
Wenn wir immer wieder in die Überforderung kommen, dann steckt dahinter eventuell ein grundsätzliches Muster. Unter Umständen so tief, dass wir es selbst nicht erkennen.
Wenn die Gedanken kreisen
Einzelne Stellschrauben sind uns vielleicht bewusst, aber häufig drehen wir uns im Kreis, wenn wir überlegen, wo wir ansetzen sollen. Eine Mutter könnte zum Beispiel so nach einer Lösung suchen: „Ich flippe immer aus, wenn die Kinder so laut sind. Ich brauche mehr Zeit für mich, um ruhiger zu werden. Also muss ich entweder die Kinder länger betreuen lassen oder weniger arbeiten. Wenn ich die Kinder länger in der Betreuung lasse, dann sind sie noch mehr aufgedreht oder erschöpft. Dann bin ich wieder mehr gefordert. Also gehe ich weniger arbeiten. Dann zahle ich aber noch weniger in die Rente ein. Das stresst mich ja jetzt schon …“
Aus dem Gedankenkarussell aussteigen
Dieses Drehen der Gedanken und Sorgen heißt auch Gedankenkarussell. Es geht immer im Kreis, ohne dass sich etwas ändert. Das Gute: Daraus auszusteigen ist möglich! (Hier habe ich schon mal geschrieben, wie wir aus dem Gedankenkarussell aussteigen können.) Eine weitere Möglichkeit auszusteigen ist der Blick von außen.
Lösungsansatz: Der Blick von außen.
Der Blick von außen kann überraschend wirksam sein. Er bringt uns überhaupt erst auf die Idee, das Karussell zu verlassen, gibt uns den Mut abzuspringen oder hilft uns den Aus-Knopf zu finden.
Methode: Was sagt mein 90-jähriges Ich dazu?
Im Coaching heißt dieses Vorgehen auch Perspektivwechsel. Es hilft innerlich von der Situation zurückzutreten. Das geht zum Beispiel mit einer imaginären Zeitreise. Ich stelle mir vor, es ist 20, 30, 40, oder sogar 50 Jahre später und frage mich: „Wenn ich jetzt hochbetagt als 90jähriger auf die Situation zurückblicke, was war damals (also heute) wirklich wichtig?“
Solch einen Perspektivwechsel oder einen Blick von außen kann ich alleine auf mich werfen, mit meiner Partnerin oder einem guten Freund. Nicht immer braucht es gleich einen Coach, eine Beraterin oder einen Therapeut – aber wenn gar nichts mehr geht, dann hol dir professionelle Hilfe! Und wer sich das Geld dafür nicht leisten kann, es gibt auch gute kostenlose Angebote (z.B. bei Caritas oder Diakonie).
Das Wichtigste: Wenn du merkst, dass es nicht mehr geht, dann such dir bitte Hilfe. Die gute Nachricht: Es ist möglich, dass wir uns ändern!