Trösten: Warum „ist doch nicht so schlimm“ schlimm ist
Wenn unsere Kinder Schmerzen fühlen, dann wollen wir ihnen helfen und das Leiden am liebsten sofort beenden. Schnell kommen uns tröstende Worte über die Lippen. Doch Trösten schadet mehr schadet als es nützt. Dein Kind braucht jetzt etwas ganz anderes von dir.
Heute Morgen, Wartezimmer beim Kinderarzt. Ein Vater mit Kind kommt herein, die Kleine vielleicht 1,5 Jahre alt, weint. Die beiden kommen von irgendeiner Kindervorsorgeuntersuchung.
Der Vater ist liebevoll besorgt um das Kind. Er nimmt es auf den Schoss, redet beruhigend auf es ein. Dann fällt dieser Satz: „Ist doch nicht so schlimm.“
Wenn trösten schadet
Die Kleine schreit weiter. Der Vater: „Alles ist gut, der Doktor hat gesagt, dass du gesund bist.“ Das Kind weint. Der Vater: „Schau mal, das große Kind da, das weint auch nicht. Wenn du mal groß bist …“ Das Kind weint.
Zugegeben – es ist für uns Eltern auch echt schwierig. Ich finde es sogar DIE größte Herausforderung schlechthin: Das eigene Kind leiden zu sehen.
Alles ist gut – von wegen
Doch die so gut gemeinten Worte des Trostes erzielen selten die erwartete Wirkung. Was dann tun?
Im Wartezimmer ändert der Vater derweilen seine Taktik: „Schau mal, da draußen fährt eine Bahn.“ Das Kind weint.
Ablenken – Fluch und Segen
Ablenken ist eine Taktik. Und sie kann auch wirklich hilfreich sein. Manchmal ist es gut, den Fokus von dem Schmerz wegzulenken. Auch das ist etwas, was Kinder lernen dürfen. Was ihnen später hilft, selbst den Fokus zu verändern.
Unerwünscht: die dunklen Gefühle
Aber im Trösten – wie auch im Ablenken – liegt auch eine Gefahr. Und zwar wenn wir das Gefühl unseres Kindes nicht aushalten können. Wenn wir immer trösten oder ablenken. Wenn das Gefühl des Kindes, die Traurigkeit, die Verletztheit, das Erschrockensein, die Wut, die Verzweiflung, wenn all das nicht da sein darf.
Gefühle sind real und Teil des Lebens
Wenn kleine Kinder weinen, ist das in der Regel nicht gespielt. Ein kleines Kind kann von der Untersuchung beim Arzt durchaus überfordert sein. Die Anspannung fällt vom Kind ab, wenn es aus dem Untersuchungsraum kommt: Es weint.
Weinen ist in diesem Fall eine Reaktion, um Stress im Körper abzubauen. Es ist eine Form, sich selbst zu regulieren.
Das passiert beim Trösten
Wenn wir nun – mit besten Absichten – das Kind mit den Worten „ist doch alles gut“ trösten, dann bringen wir Verwirrung in diese Selbstregulation.
Wir sprechen quasi dem Kind sein Gefühl ab. Das Kind fühlt sich gerade traurig oder überfordert, nur deswegen weint es. Wir aber sagen, es sei alles gut. Das erzeugt ein Dilemma im Kind.
Auf der einen Seite fühlt das Kind, dass es gerade traurig ist. Es weint. Auf der anderen Seite sagt der Vater, dass alles gut sei. Er möchte, dass das Kind aufhört zu weinen.
Dieses Dilemma, dieser Konflikt ist zusätzlicher Stress für das Kind. Wie kann es das auflösen? Es gibt zwei Möglichkeiten …
Entweder vertraut das Kind dem elterlichen Urteil: Damit entscheidet es sich aber gleichzeitig gegen sein eigenes Gefühl.
Oder das Kind vertraut seinem Gefühl – und entscheidet sich gegen die Eltern.
Was das Kind wirklich braucht
Das Vertrackte: Das Kind braucht beides. Es braucht die Sicherheit seinem eigenen Gefühl vertrauen zu können UND es braucht die Sicherheit den Eltern vertrauen zu können.
Das Dilemma lösen und gleichzeitig das Kind stärken
Die Lösung hört sich einfacher an, als sie ist: Wir nehmen das Kind einfach an – mit seinem Leid, seiner Verzweiflung oder seiner Wut. Das ist deswegen nicht so einfach, weil die meisten von uns schlicht nicht gelernt haben, jemand anders und seine Gefühle wirklich anzunehmen.
Die einfachste Art das Kind mit seinem Gefühl anzunehmen, ist dieses zu spiegeln. Das bedeutet, dass ich das, was ich sehe und fühle, meinem Gegenüber widerspiegle. Manchmal sind es aber auch nur Vermutungen …
Bei dem Kind, das weinend aus dem Arztzimmer kommt, könnte das so ganz simple aussehen: „Du bist traurig.“
Übrigens: Es kann gut sein, dass wir mit unserer Vermutung falsch liegen. Vielleicht ist das Kind gar nicht traurig, sondern wütend dass der Arzt es untersucht hat. Oder erschrocken oder die Anspannung fällt gerade von ihm ab. Vielleicht kann das Kind das Gefühl auch gar nicht benennen.
Wenn wir falsch liegen …
Wenn wir nicht richtig liegen mit unserer Vermutung, dann (ver)suchen wir einfach weiter: Wir bleiben am Kind und seinen Gefühlen dran. Notfalls sagen wir es auch, wenn wir nicht weiterwissen. Oder wir den Eindruck, das Kind weiß selbst nicht genau, was los ist: „Du weinst, weißt aber gar nicht wieso.“
Es geht darum, das Kind zu verstehen. Wenn wir uns so bemühen, am Kind und seinen Reaktionen und Gefühlen dran zu bleiben, hat das mehrere positive Effekte:
Das Geschenk an das Kind
Erstens spürt das Kind, dass seine Gefühle okay sind. Zweitens merkt es, dass wir an ihm interessiert sind. Drittens helfen wir ihm, diese Gefühle zu verstehen und sie zu benennen.
Zum Schluss: Dein Geschenk an dich
Ich bin nicht grundsätzlich gegen Trösten oder Ablenken. Ich will dir nur einen neuen Blick auf die Reaktion deines Kindes geben. Mir hilft es immer wieder, mir erstens bewusst zu machen, was ich da tue – und weswegen ich das tue. Und zweitens mir bewusst zu machen, was meinem Kind gut tut.
Oft nämlich ist es so, dass ICH das Weinen nicht aushalte und deswegen das Weinen am liebsten abschalten möchte. Doch dann verpasse ich die Gelegenheit zu schauen, weshalb ich das Weinen nicht aushalte.
Nehme ich hingegen mein Kind in diesem Moment mit seiner Traurigkeit und seinem Weinen an, dann mache ich mir auch selbst ein Geschenk: Denn indem ich den anderen, in dem Fall das Kind, annehme, nehme ich auch mich an.